einerseits - andererseits

Benedikt Geulen  bg   15. März 2016

Einerseits will man ja nie zugeben, dass es so etwas wie ein Lieblingsbuch gibt. Das gehört sich doch nicht, aus den vielen guten Büchern, die man bisher so gelesen hat eines herauszupicken, dem man dann das Wort "Lieblings-" vorspannt.

Andererseits ... naja, um es kurz zu machen: ein echtes Lieblingsbuch ist für mich der einzige Roman, den der Zeichner Alfred Kubin geschrieben hat, "Die andere Seite". 1909 ist das Buch erschienen und es hat etliche Schriftsteller nachweislich beeinflusst. U.a. kann man einige Parallelen zum Werk Franz Kafkas herstellen. Aber von der äußeren Wirkungsgeschichte des Buches einmal ganz abgesehen, kann ich nur jedem empfehlen, diesen Roman zu lesen und seine enorme innere Wirkung zu entdecken. Es wird die Reise eines Künstlers in ein wahrhaft so genanntes "Traumeich" beschrieben. Die Hauptstadt dieses irgendwo in der hinteren Mongolei angesiedelten Landes nennt sich Perle und sie wird nur mit eigens dafür vom Erbauer und Herrscher des Landes ausgewählten Menschen besiedelt. Patera ist der Name dieses geheimnisvollen und unermesslich reichen Potentaten, der seine Agenten durch ganz Europa schickt, die Auserwählten einzuladen. Als der Protagonist der Geschichte diese "andere Seite" der Welt erreicht und versucht, dort heimisch zu werden, nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Mit jedem Tag wird das Traumreich mehr zum Albtraumreich.

Keine Angst, es handelt sich hier nicht um einen verschrobenen Vorboten der Fantasy-Welle. Vielmehr entfaltet dieser Roman einen ganz besonderen und eingenartigen literarischen Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Und wenn man aus der Lektüre ein besonders bibliophiles Vergnügen machen will, dann besorge man sich den hier abgebildeten und mit den wunderbaren Zeichnungen des Autors versehenen faksimilierten Nachdruck der Erstausgabe. Den bekommt man noch hier und da antiquarisch.